Slumcities – zwischen Landflucht und urbanem Aufbruch

von Olaf Bernau (afrique-europe-interact)

Migration ist in den unterschiedlichsten Varianten ein elementarer Bestandteil des globalen Agrarsystems – und das bereits seit langem: Die unterschiedlichen Phasen der Industrialisierung in Europa wären ohne kontinuierlichen Arbeitskräftenachschub vom Lande überhaupt nicht möglich gewesen. Gleiches gilt für die von kolonialen SiedlerInnen betriebenen cashcrop-Farmen im südlichen und östlichen Afrika: Ihnen hätten schlicht die Landarbeiter gefehlt, wären nicht nach dem Ersten Weltkrieg unter anderem im heutigen Kenia etwa 40-50 Prozent der in der Subsistenzlandwirtschaft tätigen Männer durch systematische Landenteignungen zur temporären Migration gezwungen worden. Dieses Beispiel ist wichtig: Es bringt unmissverständlich auf den Punkt, dass es meist ökonomisch mehr oder weniger prekäre Situationen sind, welche Kleinbauern und -bäuerinnen zur Migration veranlassen – Stichwort: Landflucht. Dennoch ist der sowohl von NGO als auch BewegungsaktivistInnen an den Tag gelegte Hang falsch, kleinbäuerliche Mobilität vorrangig aus der Perspektive des objektiven bzw. stummen Zwangs zu rekonstruieren und somit das Klischee zu bedienen, wonach Kleinbauern und -bäuerinnen eigentlich schollenverwurzelte, ja konservative ZeitgenossInnen seien. Denn im Windschatten ökonomisch begründeter Überlebensstrategien werden in aller Regel auch Bedürfnisse zur Geltung gebracht, die ansonsten keine Chance auf Realisierung hätten. Eine in Kenia erstellte Studie (Kariuki/Nelson 2006) berichtet zum Beispiel davon, dass junge Frauen in der Stadt zunehmend die Bereitschaft verlieren würden, aufs Land zurückzukehren und dort ihre altersschwachen (Schwieger-)Eltern zu pflegen – so wie das mehrere Jahrzehnte üblich war. Erstens weil sie nicht so lange von ihren Männern getrennt sein wollten, zweitens weil die Ausbildung der Kinder Priorität genieße, drittens weil sie nicht auf Elektrizität und fließendes Wasser verzichten wollten und viertens weil sie die Bereitschaft verloren hätten, in der Landwirtschaft zu arbeiten. Demgegenüber würden sie es vorziehen, zusammen mit anderen in der Stadt lebenden Geschwistern eine Haushaltshilfe für ihre (Schwieger-)Eltern zu finanzieren – eine Entscheidung, von der Angehörige aller Einkommensklassen berichtet hätten. Die bewusste Infragestellung traditioneller, mithin patriarchaler Werte, Normen, Rollenmuster etc. (welche oft von materiellen Wünschen und Aufstiegshoffnungen flankiert ist) gilt als ein gut dokumentierter Sachverhalt. Insofern mag zwar Eric Hobsbawm mit seiner notorisch fortschrittsgläubigen Feststellung übers Ziel hinausschießen, wonach die Landbevölkerung im Süden „erst in den sechziger Jahren oder sogar noch später Schritt für Schritt begriffen (hat), dass Modernität eher ein Versprechen als eine Bedrohung ist.“ (Hobsbawm 1998, 444) Und doch: Die sozialen Urbanisierungs- und Transformationsdynamiken in der Peripherie (samt Migration) bleiben unverstanden, solange neoliberale bzw. imperialistische Unterwerfungsstrategien als einzige Interpretationsfolie herangezogen werden – unter expliziter Ausblendung des nicht nur von Hobsbawm stark gemachten Willens zum urbanen Aufbruch.

Im Übrigen ist das auch der Grund, weshalb Teile der kritischen Stadtforschung Mike Davis’ viel beachtete Untersuchung zu südlichen Mega- bzw. Slumcities ausdrücklich in Frage stellen (Davis 2007). Es stimme zwar, dass jene erst durch den millionenfachen Zuzug entwurzelter Kleinbauern und -bäuerinnen entstanden wären, und auch könne kein Zweifel an den desastergleichen Lebensbedingungen bestehen. Im größten Slum Nairobis teilen sich zum Beispiel durchschnittlich 4 Personen einen Raum und bis zu 150 Personen eine Latrine. Gleichwohl führe es nicht weiter, so die KritikerInnen, Städte wie Lagos, Dakar oder Bombay pauschal als „stinkende Kotberge“ zu denunzieren, ja zu horrifizieren (Davis, 2007, 145 sowie Parnreiter 2007). Denn Slums sind keineswegs bloße Orte des Überlebens. Im Gegenteil: Sie sind immer auch (kulturelle) Laboratorien des Wandels – und als solche dynamische Kristallisations- bzw. Anziehungspunkte. Darauf hat in jüngerer Zeit insbesondere die afrikanische bzw. afrikabezogene Stadtforschung hingewiesen – ohne indessen die neoliberale Figur des sich selbst-aktivierenden Armen zu beschwören.