WSF in Tunis – Forum der Widersprüche

Tunis2.4.Schon der Ort war umstritten: Kairo oder Tunis? Aber nicht nur: So oder so war klar, dass es insbesondere um die „Palästina-Problematik“ gehen muss und gehen wird, aber ohne die Aktivistinnen und Aktivisten der israelischen Friedensbewegung. Das nicht, weil sie nicht kommen wollten, sondern weil sie nicht konnten, nicht kommen durften.

Aber wie können die emanzipativen Kräfte im Maghreb besser gewürdigt und unterstützt werden als dass man zu ihnen geht? Man muss also hingehen, Widersprüche verstehen und sich mit ihnen auseinandersetzen wollen.

Der große Unterschied unter den etwa 50.000 Teilnehmer/innen lässt sich an der Frage festmachen: kommen, um zu lernen, Andere kennen zu lernen und gemeinsame Aktivitäten zu vereinbaren. Oder aber: kommen, um eigene Wahrheiten zu verkünden? Kommen, um sich zu einer globalen solidarischen Bewegung zu bekennen und sich aktiv einzubringen? Oder aber: kommen, um sich zu präsentieren und Andere in die eigenen (Info- oder Mitglieder)Listen aufzunehmen?

Die Erfahrenen unter den Lernwilligen haben – wie die RLS Projektkoordinatorin in Kairo Mai Choucri (ND vom 20.3.2013) sagt – lange vor dem WSF daran gearbeitet, dass mit dem Event die emanzipativen Kräfte in der Weltregion und die globalen Emanzipationsbewegungen wachsen.

Immanuel Wallerstein hat in seiner ersten WSF-Einschätzung[1] auf drei Gedanken fokussiert, die Bekräftigung verdienen: Auf die Rolle von Dignity, von Würde – das Wort prägte bereits den Slogan des Weltsozialforums. Die Würde der Anderen respektieren beginnt damit, dass man ihnen zuhören und begreifen will, warum „ein Leben in Würde!“ die Chiapas bewegt(e) und den „arabischen Frühling“ begründet(e). Wallerstein hat weiter den Ruf nach „Decolonizing, Dekolonialisierung“ herausgestellt und dabei zwei Aspekte erklärt. Da ist zum einen die Aussage in der Erklärung der Versammlung der sozialen Bewegungen[2]: „Wir bekräftigen, dass Dekolonialisierung der unterdrückten Völker für uns soziale Bewegungen eine Herausforderung von größter Wichtigkeit ist.“ Und da ist zum anderen die Forderung, zur Idee der Charta von Porto Alegre zurückzukehren und das WSF, die Sozialforumsprozesse insgesamt als partizipative Prozesse einander wirklich Gleichgestellter zu gestalten. Schließlich haben sich in den vergangenen Jahren einerseits die Tendenz zu Beliebigkeit und andererseits die Tendenz zu Routine, Gewohnheitsvorrechten der „alten Hasen“ und Hierarchiebildung verstärkt. Dass hat dem Forum Attraktivität und dringend erforderliche Dynamik genommen und einen unproduktiven Widerspruch zu den Bewegungen von Occupy und den Assembleas heraufbeschworen. Diese haben teilweise mit ihren „Global Squares“ in Tunis souverän, attraktiv und lustig agiert: das gesamte Forum über saßen sie unter freiem Himmel im Kreise und diskutierten unermüdlich. Kein Wunder, dass viele Tunesierinnen und Tunesier hier „hängen blieben“.

In den Workshops tauchten auch weiße Frauen und Männer auf, die den Beratenden prinzipiell „Kolonialkultur“ vorwarfen. Interessant war vielfache Reaktion der afrikanischen FRAUEN: „Wir können für uns selber reden und das tun wir auch!“. Das war vor allem im Climate Space zu erleben und zwar in jenen Veranstaltungen, die scheinbar simple Titel hatten wie „Food, Ernährung“, „Water, Wasser“, „Crops, Saat“, „Seed, Samen“ und „Mining, Bergbau“. Das waren auch die besonders interessanten Workshops, wo viele Teilnehmende aus Tunesien, Afrika, Indien und den Philippinen versammelt waren.

Überhaupt war das Climate Space, verabredet auf dem Peoples‘ Summit anlässlich von „Rio+20“, vorwärtsweisend. Seine Idee klingt banal: „Klima“ ist zwar das A+O für menschliches Überleben, aber die Durstenden und Hungernden, die Vertriebenen – die existentiell von Gewalt Bedrohten – stehen JETZT vor der Frage nach ihrem Überleben. Es kann daher keine wirksame weltweite solidarische Bewegung gegen die globale Erwärmung geben, ohne sich diesen Fragen zu stellen.

Im Climate Space tagten auch die „Wasserleute“, die übereingekommen sind, ihre Arbeitsweise zu verändern – nach dem Vorbild jener, die zu Ernährungssicherheit arbeiten: eine gemeinsame inhaltliche Plattform bestimmen, auf die Schnittpunkte untereinander und die Schnittpunkte zu anderen Themen und Networks und so auf neue Zusammenarbeit fokussieren.

Eine gemeinsame Schlussfolgerung im Climate Space war: Damit man gemeinsam weiter- und damit besser zusammenkommt, muss man umfassend diskutieren, was gesellschaftliche Machtverhältnisse „eigentlich und konkret“ bedeuten, wie gesellschaftliche Veränderungen „eigentlich und konkret“ geschehen, wie die dafür erforderlichen partizipativen Prozesse organisiert werden können.

Diese Fragen wurden auch im Kontext mit „Debt, Schulden“ diskutiert. Die dazu arbeitenden Netzwerke haben eine lesens- und unterstützenswerte Resolution verabschiedet[3] und erreicht, dass in der Erklärung der Versammlung von sozialen Bewegungen steht: „Wir kämpfen für die Streichung der illegitimen und unmoralischen Schulden, die heute ein globales Instrument der Dominanz, Unterdrückung, der ökonomischen und finanziellen Strangulierung der Menschen sind.“

Die „Schulden-Netzwerke“ und insbesondere die kämpferische Organisation CADTM haben herausgearbeitet, dass die „EURO-Krisenländer“ heute erfahren, was in den 70iger und 80iger Jahren die ehemaligen europäischen Kolonialländer erfahren haben: Dass Schulden ein Mittel sozialer, territorialer und globaler Spaltungen und so der Stärkung sämtlicher gesellschaftlicher Hierarchien sind. „Dekolonialisierung“ in ihren verschiedenen Aspekten verlangt daher den Zusammenschluss der unterschiedlichen „Schuldenopfer“. Da zeigen sich dann Interessenwidersprüche, die auch das Weltsozialforum beeinflussten.

Interessenwidersprüche haben sich vor allem in anti-israelischen Losungen und Symbolen niedergeschlagen. Da offenbarte sich aber auch viel Unwissen und ein Grundproblem unter den WSF-Teilnehmer/innen: Zahlreiche Menschen in den arabischen Ländern kennen die Geschichte Israels und vor allem den Unterschied zwischen Judentum und Israel gar nicht. Sie setzen ihre Erfahrungen mit dem aggressiven israelischen Staat mit all seinen Bürgerinnen und Bürgern wie pauschal mit Jüdinnen und Juden gleich und verstehen nicht, dass das keineswegs „links“ ist. Allerdings haben sich auch Islamisten Zutritt zum Forum und vor allem zu den beiden Demonstrationen organisiert. Das war „gar nicht lustig“.

„Gar nicht lustig“ waren auch die deutlich zutage getretenen Interessenwidersprüche unter den europäischen Linken. Vielen insbesondere französischen Teilnehmer/innen waren Übersetzungsprobleme recht egal: sie sprachen einfach munter Französisch drauf los und ließen sich durch den Auszug der ihrer Sprache Unkundigen nicht stören. Dummerweise ging es da aber u. a. um den Alter Summit in Athen[4], wo „plötzlich“ der vereinbarte radikale Text zur Schuldenproblematik aus dem Aufruf entschwunden ist.

Und als es Kritik und Widerspruch von Menschen ohne Pass und von arabischen Menschenrechtsorganisationen zur Planung einer sehr wohl begrüßten Kampagne für einen „Universellen Pass“ gab, die „illegale Migranten“ legalisieren soll, hieß es lapidar: Wir haben aber schon den Termin für die Pressekonferenz vereinbart. Ihr könnt eure Bemerkungen auf die Website stellen …

Das erklärt dann einerseits das negative Fazit des Bewegungsforschers Dieter Ruch zur europäischen Sozialforumsbewegung (ND vom 26.3.) Das erklärt dann aber auch andererseits das Plädoyer für eine griechische Initiative zu einer partizipativen Versammlung 2014 in Athen, wo es um „Lebensqualität“ gehen wird[5].

… und dieser Beitrag wirbt für eine gründliche kollektive Analyse des WSF, insbesondere seiner Widersprüche. Zu diesen gehört der zwischen qualifizierter Strategiediskussion in besonderen Netzwerken und Spaces wie in den zur Schuldenproblematik und fehlender Strategiedebatte. Um Strategiedefizite überwinden zu können, wäre sicher mehr Engagement von Wissenschaftler/innen  in sozialen Bewegungen wünschenswert. Aber während es auf früheren WSF dazu besondere Treffen gab, fielen diese 2013 leider flach. Das wirft Fragen nach den Ursachen auf und verlangt von den forschenden WSF-Teilnehmer/innen erhöhte Anstrengungen zur Kommunikation.