Das erste Ersteweltsozialforum

Die Idee, das Weltsozialforum (WSF) dieses Jahr zum ersten Mal im globalen Norden auszurichten, ist mittlerweile hinlänglich kritisiert, als ziemlicher Schwachsinn entlarvt worden: Während die Tatsache, dass viele Delegierte aus dem globalen Süden keine Visa erhielten nun auch schon weithin diskutiert worden ist (zum Beispiel hier und hier), weist Christian Jakob in der »taz« berechtigterweise darauf hin, dass dies rein numerisch gesprochen vermutlich das kleinere Problem war – für die meisten potenziellen Süddelegierten wären Reise hierher und Aufenthalt einfach zu teuer gewesen. »Und so sind dem Forum nun genau jene globalen Ungleichheiten eingeschrieben, die zu überwinden es antritt.« Naomi Klein benannte dieses Problem bei einem großen Podium zum Thema Klimagerechtigkeit, indem sie den Zuschauer_innen zurief: »Willkommen beim ersten Ersteweltsozialforum!«

Aber ein weiterer Konflikt, der ebenfalls mit der Wahl des Austragungsortes zu tun hat, ist bisher noch kaum besprochen worden, obwohl er für die Teilnehmer_innen des Forums – also diejenigen, die es trotz aller Hindernisse trotzdem hierher geschafft haben – ein enormes Problem darstellt: Für einen Großteil der Workshops gibt es keine Übersetzung. Ein Offenbarungseid für ein Weltsozialforum, vor allem für eines, das im globalen Norden stattfindet (wo das Geld für Übersetzer eigentlich vorhanden sein sollte). Aber wie kam es dazu?

Üblicherweise kooperieren die Weltsozialforen mit einem transnationalen Dolmetscher_innennetzwerk namens »Babels«. Sie bezahlen deren An- und Abreise, organisieren Kost sowie Logis und finanzieren die Miete von Übersetzungsequipment – im Gegenzug gibt es dafür die kostenlosen Dienstleistungen von über hundert aufopferungsvollen Dolmetscher_innen. Aber nicht in Montréal 2016. Einen guten Monat vor Beginn des Forums schickte Babels eine Mail an das Orgakommittee des WSF ebenso wie an das »International Council«, in dem sie ihre Teilnahme abkündigten. Grund eins: Das finanziell sehr klamme WSF (die Stadtregierung von Montréal hatte angekündigt, das Event großzügig zu unterstützen und zog diese Zusage ebenfalls kurz vor der Veranstaltung zurück) konnte nicht garantieren, dass An- und Abreise im Vorfeld komplett vom Forum übernommen würden. Grund zwei, der politisch deutlich gewichtigere: Die Übersetzung sollte nur in drei »Kolonialsprachen« stattfinden (Französisch, Englisch und Spanisch).

Die Sprengkraft dieser Tatsache liegt unter anderem in der Tatsache, dass Kanada in den letzten Jahren eine enorme Eskalation der Kämpfe indigener Gruppen erlebt hat, der »First Nations«. In deren Diktion, die in der kanadischen Linken zunehmend akzeptiert wird – und zum Beispiel auf dem Panel von Naomi Klein aufgenommen wurde –, befindet sich das Forum auf »gestohlenem Land«. Im Gegensatz zu den USA wurden in Kanada die First Nations nicht einfach zerstört, wurden Gebiete hier nicht einfach annektiert. Die bewaffneten europäischen Migrant_innen auf der einen Seite und die Alteingesessenen auf der anderen haben Verträge unterzeichnet, die ein friedliches Miteinander festlegen sollten. Es überrascht wohl niemanden, dass »die Weißen« diese Verträge immer wieder und dauernd ignoriert, hintertrieben und gebrochen haben. Gestern trafen wir uns auf Mohawk-Land. Und niemand der Gäste auf dem Forum wäre in der Lage, einen Mohawk zu verstehen, wenn er in seiner Sprache mit uns reden würde. Babels fand, dass das inakzeptabel sei. Und vermutlich hatten sie damit Recht.

Was mich zum Punkt bringt: Wo sind wir hier eigentlich genau? Wir sind hier nicht nur ganz im allgemeinen in der »ersten Welt«, sondern in Kanada, in einem Land, das eine dezidiert »extraktivistische« polit-ökonomische Strategie fährt und damit die traditionellen Ländereien der First Nations, die auf diese ein vertraglich verbrieftes Recht haben, im Namen des Wirtschaftswachstums gänzlich zerstört. Haben Sie schon einmal von den »Teersanden« gehört? Wenn nicht, empfehle ich Ihnen die Lektüre von Naomi Kleins exzellentem Buch »This Changes Everything« oder schauen Sie Sich den Film zum Buch an. Dagegen sind die Braunkohletagebaue im Rheinland oder der Lausitz kleine Sandkästen. Die Regierung, die so ziemlich jedes Bergbauprojekt unterstützt, befindet sich also in einem existenziellen Kampf mit den First Nations.

Aber Moment mal, hat Kanada nicht diesen hübschen jungen Premierminister, der wirklich keine Gelegenheit auslässt, vor den Kameras seinen fitnessgestählten Oberkörper zu präsentieren (hier), der sich gerne beim Yoga oder auf Gay-Pride-Paraden fotografieren lässt? Justin Trudeau mag sich gut verkaufen können, als cooler junger Politiker, der alles anders machen will. Aber aus der Perspektive der First Nations hat sich hier noch nichts geändert, ihnen wird weiterhin die Lebensgrundlage unter den Füßen weggegraben. Und dann werden ihre Sprachen auf dem Forum auch noch unverständlich gemacht, weil es keine Übersetzung dafür geben soll. Willkommen zum ersten Ersteweltsozialforum.