Im Prinzip ein offener Raum – Das Weltsozialforum kehrt nach Brasilien zurück. Silke Veth über Höhen und Tiefen der Sozialforumsbewegung.

Im Jahr 2001 aus der Taufe gehoben, kehrt das Weltsozialforum (WSF) nunmehr fast volljährig in sein Geburtsland, nach Brasilien zurück: vom 13. Bis 17. März 2018 findet in Salvador do Bahía das 14. Weltsozialforum statt. Die Hoch und Tiefs dieser Idee, dieser neuen Form der Organisierung globalisierungskritischer Bewegungen, wurden und werden auch heute immer noch diskutiert. Aber es ist wesentlich ruhiger geworden um das WSF.

Der Beginn übertraf alle Erwartungen

Während in Europa der Siegeszug des Neoliberalismus noch in vollem Gange war, fanden 1999 im US-amerikanischen Seattle bereits massive Proteste gegen das Treffen der Welthandelsorganisation (WTO) statt. Im globalen Süden wurden kritische Stimmen gegen das neoliberale Paradigma immer lauter und in Lateinamerika begann der Aufstieg linker Regierungen. Kurz, die altermundialistische Bewegung nahm ihren Anfang.

2001 fand im südbrasilianischen Porto Alegre, parallel zum Weltwirtschaftsforum in Davos, schließlich das erste WSF statt,  um den Stimmen der Andersdenkenden und Marginalisierten Gehör zu verschaffen. Mit dem Motto „Another World is possible“ (eine andere Welt ist möglich) schien der Nerv der Zeit getroffen, ein Mittel der Hoffnung gegen das so genannte TINA-Prinzip („There is no Alternative“) gefunden worden zu sein.

Die Idee des ersten WSF, diese „radikaldemokratische Utopie“, entwickelte sich rasant über die Gegnerschaft und Kritik zur ökonomischen Globalisierung hinaus. Seitdem fanden bis 2009 jährlich in verschiedenen Formen und ab dann im 2-Jahrestakt in Brasilien, aber auch Indien, in Mali, Pakistan und Venezuela, in Nairobi, im Senegal, in Tunesien und zuletzt in Kanada WSFs statt. Die Sozialforen wollten immer ein offener Raum für aktionsorientierten Austausch und für das Knüpfen von Netzwerken sein. Sie zielten darauf ab, das Terrain konventioneller Politik zu verlassen, neue Kommunikationsformen zu finden, mit anderen Methoden und multi-taktischen Ansätzen zu experimentieren und in einem horizontalen Prozess die Linke sowie linke Politik zu erneuern.

An diesem Projekt hat die Rosa-Luxemburg-Stiftung seit seiner Entstehung kontinuierlich mit gearbeitet. Seit dem ersten WSF haben wir viele finanzielle und personelle Ressourcen in die Weiterentwicklung dieser Idee gesteckt – auf internationaler und europäischer Ebene wie auch in Deutschland selbst. Das Europäische Sozialforum (ESF) und die Sozialforen in Deutschland sind zwar schon seit Beginn der 2010er-Jahre nicht mehr existent, stattdessen haben in Europa und Deutschland neue Organisierungen wie die Klima-  und Geflüchtetenbewegungen ihren Platz eingenommen. Dennoch sind die Sozialforen eine Idee, die schon seit vielen Jahren immer wieder totgesagt wird, aber nicht totzukriegen ist.

Totgesagte leben länger. Woran liegt es?

Wenngleich internationale Zusammentreffen etwa von Gewerkschaften oder von sozialen Bewegungen grundsätzlich nichts Neues sind, so stellen die Sozialforen tatsächlich eine neue Form globaler Organisierung dar. Getragen ist die Idee von der Überzeugung, dass gesellschaftliche Macht- und Herrschaftsverhältnisse nur nachhaltig verändert werden können, wenn Widerstand von unten – basisdemokratisch und dezentral – wächst und sich gleichzeitig seiner globalen Kontextualisierung bewusst ist. Doch gerade das Prinzip des offenen Raums hat immer wieder große Debatten und in wachsendem Maße auch Widerspruch ausgelöst. Denn so fehlt eben auch das global einheitliche Subjekt der Emanzipation, das von den Sozialforen zum Sprechen und Handeln gebracht werden könnte.

Der Prozess der Sozialforen hat über die Jahre immer wieder gezeigt, dass er linke Akteure, Initiativen und Organisationen verschiedener Couleur zusammen führen und auch Krisen bewältigen kann. Eine dieser Krisen entstand bei den beiden Weltsozialforen in Tunis (2013 und 2015) um die antisemitischen Artikulationen einiger der teilnehmenden Gruppen.

Die Kritik am Neoliberalismus ist weiter das verbindende Thema. Diese Kritik hat sich aber spätestens seit dem WSF 20014 in Mumbai weiter ausdifferenziert und die thematischen Agenden sind von Jahr zu Jahr breiter geworden. Im Feld der migrations- und ressourcenpolitischen Kämpfe sind neue Akteur*innen integriert und sogar hervorgebracht worden.

Auch die oft zitierte Charta von Porto Alegre war eine wichtige Grundlage des Erfolgs, weil sie, obgleich sie oft unterlaufen wurde,  dennoch jenen Raum garantiert, um jenseits trennender Erfahrungen in den Austausch zu treten. Inzwischen sind einige kontinuierlich arbeitende Netzwerke, wie z.B. jene rund um die Themen Klima und Wasser, aus dem WSF-Prozess hervorgegangen. Auch das beharrliche Ringen um alternative Formen von Öffentlichkeit ist eine wichtige Überlebensstrategie. So waren von Beginn an alternative Medienprojekte und –formate  ein wichtiger Teil des Prozesses. Sie sichern, wie  beispielsweise das Format openfsm, eine online-basierte Plattform für sozialen und politischen Aktivismus, die Fähigkeit zur Weiterentwicklung der WSF-Idee. Respekt sollte auch der bis heute konsequent dezentralen inhaltlichen Planung und Durchführung des WSF gezollt werden, die zwar einen gehörigen Chaosfaktor befördert, aber auch das Potenzial für Begegnung und Erfahrungsaustausch in sich trägt. Auch der Verzicht auf das zeitraubende Ringen um Kompromisse und Abschlusserklärungen zugunsten der Horizontalität ist ein Grund für das lange Leben der Sozialforen.

… mitunter erscheint fast nichts rosarot

Die Diskussion, ob sich das WSF als offener, strikt anti-hierarchischer Raum oder als kämpferische Bewegung weiterentwickeln soll, begleitet das Projekt fast seit dem ersten Tag und wird im Moment stärker denn je virulent. Die von Uli Brand, ein langjähriger Kooperationspartner und Sozialforumsaktivist, beschriebene Spannung zwischen Bildungs- und Identitätsveranstaltung auf der einen Seite sowie zwischen Erfahrungsaustausch und Strategieentwicklung auf der anderen Seite, hat sich nie aufgelöst und ist oft eskaliert. Aber diese Spannung ist auch häufig als unvereinbarer Widerspruch konstruiert worden.

Neue politische Ausdrucksformen und Kommunikationsstrategien der globalen Linken, neue Akteur*innen, auch „Krisenlinke“ genannt, wie etwa die Protagonist*innen der Bewegungen der Plätze in Spanien, Frankreich oder den USA konnten nur schwer an diese in die Jahre gekommene Idee der Sozialforen andocken, sind aber auch selten bewusst von den erfahrenen WSF-Aktiven in den Prozess integriert worden.

Die Probleme und Schwächen des WSF-Prozesses sind offensichtlich: Mangelnde Transparenz, fehlende Kompromissbereitschaft, das Beharren auf nationalen Prioritäten, die Dominanz einzelner Gruppen, der großen NGOs des Nordens oder parteiförmiger Organisationen und die chronisch schwache Beteiligung von Bewegungen aus dem globalen Süden. All das formte mit den Jahren das WSF: So fühlte sich die Betreuungsschicht am Informationsstand der RLS an manchen Tagen an wie ein endloses Beratungsgespräch mit jungen Menschen für Praktika und Stipendien an. Viele Veranstaltungen atmeten mehr den Geist schlechter Vorlesungen als jenen der gemeinsamen Suche nach einem anderen Lernen, einem Verlernen des Lernens wie wir es kennen. Während sich in den ersten Jahren die Botschaft der anderen besseren Welt, damals noch sehr stark an konkrete Forderungen wie die Tobin-Steuer geknüpft, scheinbar von selbst verbreitete, fanden die Sozialforen immer weniger Gehör auf der internationalen Ebene. Diese Kommunikationsprobleme nach innen wie nach außen sind gewissermaßen zum Subsound des Prozesses geworden.

Wie geht es weiter? Auf nach Salvador de Bahía!

Die Programmachsen des diesjährigen WSF zeigen den enormen Wandlungsprozess der vergangenen Jahre. Themen wie feministischer und queerer Widerstand, Kämpfe gegen Rassismus sowie für Wasser- und Landrechte, die auch hierzulande immer stärker werdende Diskussion um, ich sage es mal in meinen Worten, die „soziale Infrastruktur“, nämlich Fragen von Wohnen, Gesundheit und würdiger Arbeit, bestimmen die Agenda. Debatten um das, was das „Gute Leben“ sein kann, und Kämpfe „für unsere Erde“, zeugen davon, dass lokale Akteur*innen Hoffnung in diesen transnationalen Austausch stecken. Weiterhin gönnt sich das WSF auch eine eigene Programmachse, um über die eigene Zukunft, Fragen von Autonomie und Pluralität nachzudenken.

Für Francisco “Chico“ Whitaker, ein prominenter Mitgründer des WSF, gehört die Zukunft der Bewegung den thematischen Foren. Er reagiert damit auch auf die offensichtliche Abkehr vom WSF und die Diskussion darum, ob die WSFs überhaupt noch die Fähigkeit zur Erneuerung haben.

Insbesondere das letzte WSF 2016 im kanadischen Montreal stand aufgrund der Entscheidung des Internationalen Rates in der Kritik, das WSF erstmals im globalen Norden stattfinden zu lassen. Eine Konsequenz aus dieser Diskussion ist die Rückkehr nach Brasilien. Auch die Krise des Internationalen Rates schreit nach Veränderung: Beim letzten Treffen des Rates im Januar 2017 in Porto Alegre waren nur 30 von 170 Delegierten erschienen.

Nun steht der Vorschlag eines neuen internationalen Rates der anderen Art im Raum: einmal jährlich soll dieser neue Rat offen für alle sein, die in ihren Regionen daran arbeiten, dass „eine andere Welt möglich ist“. Als zukunftsträchtiges Symbol schlägt Whitaker vor, parallel zum Weltwirtschaftsforum in Davos, für eine Woche in Porto Alegre zu tagen, um die globale Entwicklung und Strategien im Kampf gegen den Neoliberalismus zu diskutieren. Eine charmante Idee. Aber zurück zu den Wurzeln muss noch mehr heißen: Sich etwa für eine Veränderung der Formate zu engagieren, die nächste Generation an das Ruder zu lassen, Süd-Süd-Netzwerken wieder die nötige Aufmerksamkeit zu schenken und die Kämpfe des kommenden Jahrzehnts in den Mittelpunkt zu stellen: Kämpfe um Migration und um Partizipation – neue Klassenkämpfe eben!

Über die Autorin:

Silke Veth ist Direktorin der Akademie für politische Bildung der Rosa-Luxemburg-Stiftung in Berlin. Bis 2014 war Silke Veth mehr als zehn Jahre Referentin für Internationale Politik und soziale Bewegungen der RLS. In dieser Zeit nahm sie nicht nur an fast allen Weltsozialforen mit eigenen Aktivitäten teil, sondern begleitete und kommentierte den Prozess der Sozialforumsbewegung auch in Europa und Deutschland.