Stell Dir vor, es ist Weltsozialforum, und die Welt bleibt zu hause

Weltsozialforum” – der Name impliziert irgendwie… etwas, das sowohl in Form wie Inhalt global ist. Bei dem es um Themen geht, die globale Resonanz haben, die sich vielleicht weltweit reimen. Bei dem Menschen aus aller Welt teilnehmen, und über Themen reden, die Menschen in aller Welt betreffen. Natürlich ist es schon immer so gewesen, dass der Ort, an dem das WSF stattfindet, nicht nur die Thematik beeinflusst – beim 2009er WSF in Belem, im brasilianischen Amazonasgebiet waren es zum Beispiel indigene Bewegungen, die ihre Themen mit Macht auf die Agenda brachten, während 2007 in Nairobi LGBT-Themen äußerst präsent waren: Kenia ist eines der subsaharischen Länder, in denen queere Lebensentwürfe, sagen wir mal, nicht ganz frei gedeihen können; jenseits der Themensetzung waren es natürlich immer die lokalen und nationalen Bewegungen, die am meisten Teilnehmende mobilisierten, waren die Foren immer auch ganz zentral lokal und regional relevante Events. Die Entscheidung, das WSF 2013 in Tunis zu veranstalten, lag im Versuch begründet, die regionalen Linken zu stärken, die im Nachgang der ‚Arab Spring‘-Rebellionen im Vergleich zu den islamistischen und autoritären Akteuren am Schwächeln waren. Kurz: das Lokale war auch beim Weltsozialforum immer schon wichtig und bestimmend, und stellte ein wichtiges Gegengewicht zum Weltsozialforum der globalen aktivistischen Kader, des globalen Bewegungsjetsets dar.

Jedoch kann das mit der Lokalisierung auch deutlich zu weit gehen – so weit, dass irgendwann kaum noch Welt im Weltsozialforum zu finden ist. Das zumindest war der Eindruck, der sich mir bei der gestrigen Eröffnungsdemo aufdrängte. Traditionell erwartet man hier mehrere zehntausende Teilnehmer*innen, sogar das erste Weltsozialforum in Montreal brachte knapp 20.000 Menschen bei der Anfangsdemo an den Start (und das, wir erinnern uns vielleicht, war schon eine recht deprimierende Veranstaltung).

Und diesmal? Diesmal waren kaum mehr als 5.000 Menschen auf den Straßen. Wäre ich Pressesprecher des WSF, hätte ich vermutlich versucht, die Zahl auf 6-8.000 hochzuflunkern, aber glücklicherweise bin ich das nicht. Ich kann also meinem Frust freien Lauf lassen:

  • Frust, dass die Auftaktdemo des WSF in einer Zeit, in der es wahrlich genügend globale Diskussions- und Strategieentwicklungsbedarf für Linke gibt kleiner ist, als eine durchschnittliche Antinaziblockade in Kreuzberg.

  • Frust, dass die Themensetzung so lokal und national war, dass schmerzlich offensichtlich wurde, wie wenige inhaltliche Gemeinsamkeiten es mittlerweile in den globalen Linken gibt (dazu gleich noch mehr).

  • Frust, dass man von relevanter internationaler Beteiligung eigentlich nicht mehr sprechen kann, wenn zum Beispiel nicht einmal mehr mein eigener Bewegungszusammenhang, die globale Klimagerechtigkeits(CJ-)bewegung, diesen Ort besonders ernst nimmt. Das ist relevant, weil es u.a. die CJ-Bewegung war, die in den vergangenen Jahren den globalen Teil des WSF mit Leben gefüllt hat (wegen des erheblichen globalen Koordinierungsbedarfs in der Klimafrage).

Warum Frust? Klar, weil ich eine große Dramaqueen bin. Aber auch, weil das WSF mal eine der zentralen Instanzen der globalisierungskritischen Bewegung war, die Bewegung, in der ich politisch sozialisiert wurde. Und heute liegt das Forum darnieder, ist, in den Worten eines Freundes und Genossen, der schon seit zwanzig Jahren im ‚International Council‘, dem beeindruckend behäbigen Politbüro des WSF, aktiv ist, ‚largely a Salvadorean Forum‘. Auf Nachfrage gibt er dann zu: „this will be the last WSF“ – das wird das letzte WSF sein. Alldieweil hat sich die Rechte die Kritik an der Globalisierung zu eigen gemacht, Trump erhöht Schutzzölle (und kriegt dafür von Senator Warren auf die Schulter geklopft), Marine Le Pen klingt gelegentlich wie José Bové (noch eine der alten Instanzen unserer Bewegung) – und die Linke zerlegt sich in Auseinandersetzungen darüber, ob eine Kritik der neoliberalen Globalisierung wirklich dazu führen sollte, dass wir für Wohlfahrstaatssozialismus in einem Land kämpfen sollten. Plötzlich gewinnen die Rechten mit Globalisierungskritik Wahlen, und die o.g. Globalisierungskritik von Links, die immer ein Kampf für eine andere, eine solidarische, eine Globalisierung von unten war, schwächelt so sehr, dass das Wort Schwächeln eigentlich unpassend ist. Mein Großvater war bei seinem kürzlich gefeierten 100. Geburtstag fideler, als die Bewegung, die sich hier angeblich treffen sollte.

Letzter Punkt, sonst wird’s zu lang: der am lautesten gerufene Slogan auf der gestrigen Demo war ‚Fora Temer‘, ‚Temer raus‘, gegen den durch einen konstitutionellen Putsch an die Macht gekommene Präsident von kapitalistischen Gnaden. Die klassischen antineoliberalen Positionen nahmen maximal 20-30% des Kommunikationsraums ein. Das führt zur Frage: was haben wir eigentlich noch gemeinsam? In Lateinamerika zerlegen sich Linke entlang der Frage Produktivismus vs. Antiproduktivismus. Im globalen Norden entlang der Achse ‚kommuntaristisch‘ (sprich: national orientiert) vs. ‚internationalistisch‘ (sprich: mit einem sinnvollen Verständnis globaler Stoff- und Warenströme ausgestattet). Das sind wichtige Fragen, und sie sollten auf einem WSF diskutiert werden. Aber nach der Demo gestern würde ich mal sagen, das hier wird eher eine Werbeveranstaltung für den ultraproduktivistischen Kurs der PT unter Lula. Der zwar nicht mehr zur Wahl antreten kann, aber hey, egal. Fora Temer, viva a Lulismo.

Screw that. Ich geh jetzt Klimagerechtigkeit diskutieren. Vielleicht passiert ja noch ein Wunder, und wir finden, irgendwo auf diesem Weltsozialforum, ein Bisschen Welt.