Ein anderer Nahverkehr ist möglich

Öffentliche Investition – Verschwendung von Subventionen

Von Judith Dellheim. Die Nachricht vom Mord an Marielle Franco schockte alle und prägte das WSF am Donnerstag. Das betraf auch unseren Workshop zum Nulltarif im Öffentlichen Nahverkehr (ÖPNV). Er folgte einer sehr emotionalen spontanen Demonstration des Protestes gegen die ungeheuerliche Tat und des Gedenkens an die beliebte Politikerin. Selbstverständlich ist Daniel Santini in der Eröffnung der Veranstaltung darauf eingegangen.

In der Einführung stellte er außerdem klar: Eine andere Welt, eine andere Gesellschaft – eine gerechte, demokratische, solidarische und daher auch und insbesondere eine ökologische – bedingen eine andere Mobilität. Es geht vor allem um weniger Verkehr, um freiwillige und garantiert mögliche Mobilität, die Menschen einander näherbringt, sie nicht stresst und krank macht, ihren Alltag sozial bereichert und ihre natürlichen Lebensbedingungen erhält und verbessert. Da muss kollektiv nach konkreten Antworten gesucht und zugleich an politischen Bündnissen und demokratischen Mehrheiten für ihre Realisierung gearbeitet werden. Das ist auch die Botschaft der auf der Veranstaltung ebenfalls vorgestellten originellen Autocracy-Karikaturen von Andy Singer.

Ein Nulltarif im ÖPNV kann dabei wichtig und nützlich sein, wenn er zu einem integrierten Mobilitätskonzept gehört, das insbesondere zu Fuß gehen und Radfahren fördert. Er kann es auch, weil es soziale Bewegungen für ihn gibt. Für seine Realisierung im „linken Sinne“ bedarf es auch politischer Strategien zur Gestaltung von Städten und Siedlungen mit kürzeren Wegen. Der ÖPNV soll für jede und jeden leicht erreichbar und komfortabel sein, gut funktionieren, den Bedürfnissen der Bürgerinnen und Bürger angepasst sein und damit auch ihren Sicherheitsbedürfnissen. Er soll ökologisch vernünftig und solidarisch finanziert sein. Das gilt erst recht für einen anzustrebenden ÖPNV-Nulltarif für alle in den Städten und Siedlungen Lebenden bzw. sich Aufhaltenden.

Da waren sich der Moderator Daniel Santini und seine Gesprächspartner Lucio Gregori, Daniel Caribé und die Autorin einig. Sie wollen keine autofreien Innenstädte bzw. keinen ÖPNV-Nulltarif nur für die Reichen. Lucio Gregori hat auf einen ÖPNV mit Nulltarif für alle auch praktisch hingearbeitet und das sogar in der Megastadt São Paulo. Dort haben die Menschen täglich große Distanzen zu bewältigen, leiden unter schlechter Luft, gefährlichem Autoverkehr und völlig überlasteten bzw. fehlendem und oft schlecht arbeitenden ÖPNV. Lucio hatte einst für die PT in der Stadtverwaltung in São Paulo Verkehrspolitik betrieben. In Salvador beeindruckte er mit seiner enormen Fachkompetenz, seiner Redekunst und vor allem mit seinen Argumenten für einen solidarisch finanzierten Nulltarif.

Über großes Wissen und gute Argumente verfügt zweifellos auch Daniel Caribé, der lange Jahre analysierte, wie in Frankreich in über 20 Städten der Nulltarif im ÖPNV eingeführt wurde und wirkt. Aubagne ist das international bekannteste Beispiel. Allerdings wäre die französische Praxis in Deutschland nicht anwendbar, weil die französischen Kommunen zur ÖPNV-Finanzierung eine Steuer erheben dürfen. Die Kommunen in Deutschland dürfen das nicht. Daran ist die Fortsetzung des Modellprojektes ÖPNV-Nulltarif in Templin gescheitert. Zwei Jahre bekam die Kommune die Erlaubnis zum Test und auch eine entsprechende Finanzierungsmöglichkeit gewährt. Dann war die Zeit vorbei und die Kommune durfte ihre Bürgerinnen und Bürger nicht einmal zur Beratung über eine Sondersteuer einladen. Diese hätte gerade einmal 15 Euro im Jahr betragen. Aber die Kommune muss das Dreifache der ÖPNV-Finanzierung für den Autoverkehr aufbringen und alle Steuerpflichtigen zahlen im Jahr mehr als 150 Euro für diese sozial und ökologisch zerstörerische Mobilität!

Die Diskussion in Salvador hat einmal mehr Gemeinsamkeiten in den zu bewältigenden Problemen, in den Problemsichten und Konzepten gezeigt. Der Erfahrungsaustausch sollte daher unbedingt fortgesetzt werden!

Dr. Judith Dellheim ist Referentin der Rosa-Luxemburg-Stiftung für Solidarische Ökonomie