Lula im Stadion

Von Lorenz Gösta Beutin, MdB

Heute Nacht waren wir nochmal unterwegs in der historischen Altstadt von Salvador. Quirlig und lebensfroh. Da kann man sich die Gegensätze hier gar nicht vorstellen, die Gewalt, Korruption und Brutalität. Eine brutalisierte Klassengesellschaft. Der Mord an Marielle Franco ist da nur die Spitze des Eisbergs. Mittlerweile ist klar, dass die Kugeln aus Polizeibeständen stammten, die sie und ihren Fahrer getroffen haben. Man merkt seitdem überall die Trauer, aber auch Wut und Entschlossenheit, das nicht hinzunehmen.

Am Tag haben wir gestern vier verschiedene Besetzungen besucht, wo organisierte Obdachlose Land besetzen und kleine Ansiedlungen gründen. Bei der einen waren wir anwesend, als sie ihre Strategie gegenüber der Polizei besprochen haben. Sie haben dort fünfzehn Leichen gefunden und vermuten noch mehr. Möglicherweise haben sie zufällig einen Ort besetzt, wo Polizei und Drogengangs ihre Opfer vergraben.

Donnerstagabend waren wir bei einer Großkundgebung im Stadion von Salvador. Da sitzt auf der Bühne ein alter Mann, der fast einzuschlafen droht. Immer wieder wischt er sich den Schweiß von der Stirn, immer wieder trinkt er aus einer Plastikflasche. Das soll dieser Lula sein? Fast bemitleidenswert, kann man so jemanden noch zumuten, in der Öffentlichkeit zu stehen, so ein langes Programm über sicher ergehen zu lassen?

Dann steht dieser alte Mann auf, der eben noch scheinbar apathisch auf den Boden gestarrt hat und beginnt zu reden. Und es ist wie eine Naturgewalt, er reißt die Menschen im Stadion mit, er erzählt eine Geschichte von sozialen Kämpfen, von Würde, er erzählt von persönlichen Rückschlägen, er erzählt von der Kraft der sozialen Bewegungen und der Hoffnung und der Notwendigkeit, das Erreichte zu verteidigen und darüber hinauszugehen. Er spricht über Schwarze, Indigenas, Landlose, Frauen. Von der Kraft einer Bewegung. Und ich habe live wahrscheinlich noch nie so eine Kraft, so eine Rede gehört.

Lula ist für die Menschen noch immer die Hoffnung auf ein anderes Leben. Er liegt in allen Umfragen vor dem faschistischen Kandidaten, und zwar um das Doppelte. Die Frage ist, ob er antreten kann, weil er mittlerweile in zweiter Instanz verurteilt ist. Es geht wohl um Korruption. Wir haben das mit Leuten besprochen, und die Aussage war, dass dort keine Politik ohne Korruption stattfindet, aber in Lulas Regierungszeit tatsächlich sich die soziale Lage für die Armen, Frauen, Schwarzen verbessert hat. Das sei für die Menschen das Entscheidende, zumal unter der aktuellen rechten Putsch-Regierung Vieles wieder schlimmer würde.

So, jetzt stehe ich langsam auf, mache mich fertig, packe meine Sachen und frühstücke. Gleich geht es nämlich zurück, nach Deutschland. Und ich nehme unglaubliche Eindrücke mit, so viele, dass ich sie hier gar nicht alle aufschreiben kann.